Zweifel

Grau begann zu würgen und musste sich explosiv übergeben. Es schmerzte.

Der Taxifahrer fluchte unterdrückt und stoppte scharf.

»Ich habe Tempotücher, ich mache das sauber«, erklärte Milan gemütlich.

»Das kostet zwanzig Mark extra«, schrillte der Taxifahrer wütend.

»Schon gut, mein Freund. Fahr weiter, du kriegst dein Geld.«

»Wieso müssen Leute immer so saufen?« Der Fahrer schnaubte verächtlich.

»Er hat nichts getrunken, er ist krank«, stellte Milan richtig.

»Na ja, ich denke eben …«

»Du sollst fahren«, sagte Milan. »Wir haben es eilig.«

»Ich will keinen Arzt«, hauchte Grau zittrig.

»Wir fahren nicht zu einem Arzt«, beruhigte ihn Milan. »Wir fahren zu Sigrid.«

»Wenn es Grippe ist, hilft Brennesseltee«, sagte der Fahrer hilflos.

»Ich steige aus«, sagte Grau matt. »Ich steige aus dieser gottverdammten Geschichte aus.«

»Kannst du eigentlich klar sehen?«, fragte Milan kühl.

»Ja, kann ich, glaube ich.«

»Das ist gut«, sagte Milan beruhigt. »Wir hatten einen bei einer Patrouille, der stürzte einen Abhang runter. War eigentlich harmlos, aber dann, nach zwei Tagen, fiel er um. Er hatte nur Sehstörungen. Einfach bewusstlos, verstehst du? Wir haben gewartet, weil wir ihn nicht krepieren lassen wollten. Dann kamen Serben und haben uns zusammengeschossen. Von acht war ich der Einzige, der rauskam. Der Bewusstlose hat nichts mehr mitgekriegt, er ist einfach gestorben.«

»Sie waren sicher bei der UNO?«, fragte der Fahrer.

»Na sicher«, sagte Milan heiter. »Halte da vor dem Haus.«

»Ich steige aus«, murmelte Grau verbissen.

»Erst mal gehst du in die Badewanne«, sagte Milan. »Später reden wir. Langsam, ganz langsam. Und wenn es nicht geht, sagst du Bescheid.«

»Ja, Papa«, sagte Grau.

»Und dann sagst du mir, was wirklich ist, du Journalist. Langsam jetzt.«

»Ich mache eine Berlin-Geschichte«, beharrte Grau.

»Und dafür brauchst du einen Schatten.« Milan lächelte. »Langsam jetzt bei der Treppe.«

In der Tür zur Pension stand Sigrid Polaschke und sagte verkrampft zwischen Weinen und Lachen: »Sie haben euch aufgemischt, gib’s zu, sie haben euch aufgemischt!«

»Sie haben ihn etwas scharf rasiert«, erklärte Milan. »Lass Wasser in die Wanne laufen. Nicht zu heiß, angenehm. Mach schon!«

»Ich habe dir gesagt, dass das Scheiße ist«, maulte sie.

»Ich konnte das nicht ahnen«, murmelte Grau.

»Sind Sie ein Geheimbulle oder so was?«, fragte die Polaschke.

»Nicht die Spur«, antwortete Grau.

»Lass Wasser ein!«, sagte Milan scharf.

»Scheißmannsvolk!«, schimpfte sie empört und verschwand.

»Ich bin doch nicht krank«, stellte Grau matt fest.

»Du wirst vielleicht tagelang nicht gehen können«, sagte Milan. »Du badest jetzt.«

»Was hast du mit diesem Mann gemacht, diesem schmalen, hageren?«

»Nicht viel«, sagte Milan beruhigend. »Hier ist das Badezimmer. Ich habe ihn in einen Lokus gesperrt. Komm jetzt, zieh dich aus.«

»Hattest du in Jugoslawien auch immer eine Badewanne mit warmem Wasser, wenn du gestolpert bist?«

Milan lächelte. »Nein. Aber irgendein Bach war immer da. Was ist? Was willst du eigentlich wirklich in Berlin? Zieh dich schon aus!«

»Er soll erst mal eine Handvoll Aspirin nehmen«, sagte die Polaschke hinter ihnen. Sie hatte geweint, das Lippenrot war verwischt, die schwarze Wimperntusche auf die Wangen gelaufen.

Grau sah sie an, nahm die Tabletten und stopfte sie in den Mund. Dann würgte er und spuckte sie wieder aus. »Ich friere«, sagte er.

»Zieh dich aus. Komm, ich zieh dich aus. Du musst dich ins Wasser legen!«, sagte Milan heftig.

»Ich friere«, wiederholte Grau. Er hatte Angst, er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er ließ es zu, dass sie ihn auszogen, und er ließ sich helfen, in die Badewanne zu steigen. Als er im Wasser lag, fror er immer noch. »Diese Frau ist sehr hübsch«, murmelte er.

Milan nickte. »Sie ist ein Wahnsinnsschuss.«

»Schuss? Nennt man das Schuss?«

»Bei Zuhältern nennt man das Schuss«, kommentierte Sigrid Polaschke bissig.

»Du machst jetzt die Augen zu«, befahl Milan.

»Hört auf mit diesem Scheiß«, sagte Sigrid Polaschke. »So erwischen sie dich doch sofort.«

»Später«, murmelte Milan, »später.«

Grau hatte jedes Körpergefühl verloren und horchte ängstlich in sich hinein. Er versuchte herauszufinden, ob irgendetwas in ihm zerbrochen war. Etwas fahrig suchte er an seinem rechten Handgelenk den Puls. »Wieso haben die sofort geprügelt?«

»Dieser Sundern führt wohl ein Doppelleben.« Milans Stimme klang so, als erzählte er Kindern eine Gutenachtgeschichte. »Er ist tagsüber Geschäftsmann oder Anwalt. Nachts ist er König in einer anderen Welt.«

»Er hat mich angesehen«, sagte Grau kopfschüttelnd. »Er hat mich angesehen und gespottet. Die Frau spottete auch. Ich habe einen Fehler gemacht. Aber welchen?«

»Hast du«, bestätigte Milan. »Du hättest dich von diesen Kerlen nicht abdrängen lassen dürfen. Sie haben dich … sie haben dich einfach geschubst.«

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Draufhauen«, erwiderte Milan. »Ja, ja, ich weiß, das willst du nicht.«

»Was hast du mit diesem Frettchen wirklich gemacht? Ehrlich, nur in den Lokus gesperrt?«

»Etwas mehr«, sagte Milan knapp und ernst. »Ich habe ihm gesagt, er soll dich im Leben nie wieder anfassen. Dann habe ich eine Doublette – nennt man das hier auch Doublette? – angesetzt. Rechtes Ohr, linkes Ohr. Dann wollte er brüllen und ich habe ihm das Maul gestopft.«

»Aber er hat nicht dich geschlagen«, sagte Grau in matter Empörung.

»Aber er hat es befohlen«, erklärte Milan ruhig. »Ich habe Lokuspapier genommen. Er hatte den Mund voller Lokuspapier und er konnte es nicht loswerden, weil ich seine Hände in den Gürtel gestopft und fest zugezogen habe.«

»Verdammt brutal.« Grau war angewidert.

»Was willst du? Wozu brauchst du Sundern? Und wieso dieser Blonde mit den englischen Schuhen? Berlin-Geschichte!« Milan wurde langsam heftig.

»Du bist nicht mehr mein Schatten«, sagte Grau und wollte aufstehen. Aber das konnte er nicht und das Wasser schwappte über den Wannenrand.

»Wieso? Erst willst du Schatten, dann brauchst du ihn, dann willst du ihn entlassen.« Milan lachte unterdrückt.

Dann wurde er unvermittelt ernst und erklärte: »Es ist wie zu Hause. Du hast einen kleinen Trupp, du hast ein Kommando. Irgendeiner mit viel Orden schickt dich auf eine Straße und sagt: ›Halt die Augen offen!‹ Du hältst die Augen offen und siehst viele Trupps, die dich kaltmachen wollen. Du denkst, Scheißkommandeur, hat es gewusst und einfach nichts gesagt. Was hat man dir nicht gesagt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Grau. »Ich will raus aus dem Wasser.«

»Erst kaltes Wasser«, beharrte Milan. »Das ist gut für deinen Kreislauf.« Er zog den Stöpsel aus der Wanne und ließ kaltes Wasser nachlaufen. Grau hörte auf zu frieren.

Milan rieb ihn mit einem harten, dünnen Handtuch ab und führte ihn dann in sein Zimmer. »Nix anziehen, nackt ins Bett legen. Und jetzt erzählst du ein bisschen, ja?«

»Wie viel Uhr ist es eigentlich?«

»Zwei, glaube ich. Oder willst du schlafen?«

»Ich will nicht schlafen. Ich möchte wissen, ob Angie nach Teneriffa geflogen ist.«

»Wer ist Angie?«

»Eine alte Freundin«, sagte Grau. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer. Als niemand abhob, sagte er: »Sie ist geflogen, sie ist eine Preußin, sie ist wirklich geflogen.«

»Wie fing alles an?«, fragte Milan. »Bist du ein Journalist? Bist du jemand, der schreibt?«

»Ja, das bin ich. Es fing mit Eichhörnchen an. Das ist meine Tochter. Nein, das war meine Tochter. Sie ist tot. Das ist sehr lange her, sehr lange.«

»Töchter sind niemals lange her«, murmelte Milan begütigend. »Ich kenne mich aus. Was war mit deiner Tochter? Unfall?«

»Nein, nein, Heroin. Eine alte Geschichte, gar nicht besonders aufregend, eigentlich eher ziemlich normal …«

»Hör schon auf …«

»Sie war siebzehn, sie war im Gymnasium, sie war klug und sehr verletzlich. Ja, und sie war hübsch.« Er lächelte flüchtig.

»Wir lebten erst in Washington. Ich arbeitete dort für eine Nachrichtenagentur. Dann in Montreal, in Kanada, dann in Rom. Es war eigentlich gut. Nicht allzu viel Arbeit. Ich bin dann nach München gegangen, Eichhörnchen war damals vierzehn. Eigentlich war alles okay, alles lief ziemlich ruhig, sie war eine gute Schülerin, meine Ehe war auch gut. Nicht aufregend, aber ziemlich fest, verstehst du?

Irgendwie haben wir dann alles falsch gemacht. Ich muss Fehler gemacht haben, jede Menge Fehler. Na klar, Eichhörnchen hat mal gehascht, aber das tun sie ja alle. Wir waren nicht hysterisch, wir haben uns gesagt: Da muss sie durch! Vielleicht hatte sie auch Angst vor dem Leben. Vielleicht war ich auch zu selten zu Hause. Ich weiß es nicht.

Sie hat jedenfalls Drogen genommen. Erst ein paarmal LSD, dann Amphetamine, also Speed, dann Beruhigungsmittel. Sie hat ihrer Mutter Beruhigungsmittel geklaut, verstehst du. In der Schule wurde sie immer schlechter. Kann ja auch sein, dass sie nicht damit fertig wurde, dass sie plötzlich eine Frau war. Das kommt ja wie ein Angriff.

Sie fing an, die Schule zu schwänzen und sich herumzutreiben, meistens in Schwabing, meistens oben an der Münchener Freiheit. Manchmal auch in den Kneipen, die in dem Gassengewirr dahinter liegen. Wir haben es gar nicht mitbekommen, wir wussten nichts. Sie war blass und sie hatte plötzlich dauernd Pickel. Sie konnte mich auch nicht mehr anschauen, wenn sie mit mir sprach. Sie badete nicht mehr, sie stank manchmal.«

»Ganz Jugoslawien stinkt«, sagte Milan. Es war so, als habe er gar nicht zugehört. »Bei meiner Tochter war das anders. Sie saß im Sandkasten. Sie war vier. Irgendwelche Männer kamen mit zwei oder drei Kalaschnikows die Straße runter und sie haben Djuna, sie hieß Djuna, wie eine Taube abgeschossen. Alle im Haus, meine Eltern und meine Frau, rannten raus. Sie schossen auch die ab, wie auf dem Schießstand. Sie standen da und lachten und luden nach und gingen zum nächsten Haus. Es waren Leute aus meinem Dorf.«

»Das ist doch alles Scheiße!«, sagte Grau heftig. »Die Menschen lernen nichts. Was sollen wir im Westen denn machen? Sollen wir die Serben zusammenschießen?«

»Nicht einfach alle Serben«, erklärte Milan fest. »Aber ihr hättet schon hingehen und die töten müssen, die ihre Leute verführt haben. Nur die, das hätte gereicht. Was passierte mit Eichhörnchen?«

»Wir erfuhren von den Lehrern, dass sie monatelang nicht in der Schule gewesen war. Und dann ist sie einfach verschwunden. Einfach so, verstehst du? Wir haben sie suchen lassen, aber niemand hat sie gefunden. Sie ist nach Frankfurt und dort abgetaucht, in die Szene. Wir saßen zu Hause rum, ich konnte nicht mehr arbeiten, meine Frau weinte nur noch.«

»Wo ist deine Frau jetzt?«

»Ich denke, in München. Wir sind geschieden. Wir waren einfach sprachlos. Eichhörnchen kam ein paarmal zurück. Mal hatte ihr jemand die Zähne eingeschlagen, mal jemand sie verdroschen, mal hatte jemand sie vergewaltigt. Sie versuchte ein paarmal eine Entziehungskur, aber sie schaffte es nicht.

Sie verschwand immer wieder nach Frankfurt und behauptete, das wäre ihr Paradies. Dann, eines Nachts, wurden wir angerufen, jemand sagte, wir müssten kommen, Eichhörnchen wäre tot. Sie hatten sie auf irgendeinem Klo im Bahnhof gefunden. Zweifelsfrei eine Überdosis. Der Stoff war nicht sauber, er war Dreck, sie ist dran krepiert. Wir haben sie dann heimgeholt: nach München transportiert und auf dem Waldfriedhof beerdigt.

Ich konnte nicht mehr arbeiten, hab immer nur gegrübelt und bin dann nach Frankfurt gegangen und in die Szene eingetaucht. Es war ganz einfach. Du brauchst dich nur ein paar Tage lang nicht zu rasieren und nicht zu waschen. Dann besorgst du dir ein paar alte, löchrige Klamotten und du gehst da hin, wo sie alle rumstehen und nach irgendwelchen Stoffen gieren. Ich habe es so gemacht.

Einige erinnerten sich an Eichhörnchen und sie verrieten mir, wer ihr den Stoff gedealt hatte. Es war schrecklich trivial. Ich habe den Kerl eine Weile beobachtet, dann habe ich ihm aufgelauert. Wir hatten eine kurze Debatte und ich habe ihm mit einer Dachlatte beide Schulterblätter zerschlagen, ich war wie in Trance. Man hat mich verurteilt, und White von der DEA wurde dadurch auf mich aufmerksam.«

»Sicher«, sagte Milan, »sicher. Und das jetzt in Berlin?«

»Das hat damit zu tun. Ich erzähle dir das. Du bist der Schatten, also musst du es wissen.«

Es war vier Uhr nachts, als er endlich mit der ganzen Geschichte zu Ende war, und Milan sagte abrupt: »Irgendetwas stimmt nicht mit diesem White und diesem Thelen. Es gibt eine Menge solcher Leute in meinem Land. Alle sind sie gleich: Alle sagen nicht die Wahrheit. Es ist ihnen scheißegal, wenn du dabei stirbst. Das müssen wir überlegen.«

»Aber ich muss an diesen Sundern heran«, beharrte Grau eigensinnig.

»Ist richtig«, stimmte Milan zu. »Das musst du. Aber du gehst in sein Büro. Ganz offiziell, wie ein Kunde.«

»Er wird sich über mich amüsieren«, sagte Grau.

Milan schüttelte den Kopf. »Nicht die Spur. Siehst du, ich habe das Frettchen mit Lokuspapier vollgestopft und Sundern weiß das. Er wird freundlich sein, denn er muss fragen, was passiert, wenn er ein zweites Mal ignoriert, was du willst.«

»Ich kann dich als meinen Schatten da aber nicht reinziehen. Das geht nicht. Du fliegst auf, du hast keine Papiere.«

»Das sagt Sigrid auch, sie hat Angst. Wir könnten es bei einer zweiten Gruppe versuchen, bei Sundern später vielleicht. Sundern wird Feinde haben, also versuchen wir es erst bei seinen Feinden.«

»Aber ohne Schatten«, mahnte Grau. Dann schlief er unvermittelt ein.

Als er aufwachte, schien die Sonne in beruhigenden, langen grellweißen Bahnen in das hohe Zimmer. Er brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Wenn die Uhr richtig ging, dann hatte er zwölf Stunden geschlafen. Milan oder die Polaschke hatten ihm ein Glas Wasser und einige Aspirin neben das Bett gelegt. Er hatte Kopfschmerzen und nahm zwei Tabletten.

Dann stand er auf und musterte sich in dem kleinen Spiegel. Er hatte blaue Stellen am rechten Auge, einen rotschwarzen Fleck am rechten Oberarm und einen am linken Oberschenkel. Er hockte sich auf das Bett und rief die US-Botschaft in Bad Godesberg an. Er verlangte White, und die Verbindung kam nicht sofort zustande, weil sie vermutlich zuerst ihre Tonbänder in Gang setzen mussten.

Dann sagte White munter: »Na, wie geht es meinem Kundschafter?«

»Ganz gut«, antwortete Grau. »Ich habe einen Babysitter, und Sie sollten gar nicht erst versuchen, das abzustreiten. Er ist ungefähr dreißig Jahre alt, ein schlanker Blonder mit englischen Schuhen. Ziehen Sie ihn ab, er macht seine Sache schlecht.«

»Das ist kein Mann von mir.« White sagte das wirklich überzeugend.

»Dann ist er ein Mann von diesem christ-katholischen Thelen«, entschied Grau traurig. »Ich nehme an, Thelen kann ebenso gut lügen wie alle Geheimdienstleute. Der Kleine sollte aus dem Spiel genommen werden, White. Sonst spiele ich nicht mehr mit. Ich habe Ihr Wort.«

»Ich richte es Thelen aus«, versprach White. »Haben Sie irgendeinen Kontakt gemacht?«

»Noch nicht«, log Grau. »Welche Gruppierung ist Ihrer Ansicht nach die gefährlichste?«

»Schwer zu sagen. Die Russenmafia ist nicht ohne, aber ich denke, die spielen nicht mit, wenn es um Kokain geht.«

»Es geht auch um Dollar«, erinnerte Grau ihn gelassen. »Also, nicht vergessen, der Blonde mit den englischen Schuhen muss aus dem Verkehr gezogen werden.«

»Moment mal, wo wohnen Sie denn? Woher rufen Sie mich an?«

»Das müssen Sie nicht wissen.« Grau hängte ein. Er ging hinaus in den Flur und fragte laut: »Ist jemand da?«

»Aha!«, sagte die Polaschke kriegerisch. »Sie wollen Kaffee?«

»Das wäre gut. Und trockenes Brot. Nichts sonst, nur trockenes Brot. Wo ist Milan?«

»Hören Sie mal«, sagte die Polaschke und kam ganz nah an Grau heran. »Ich habe mir Milan an Land gezogen, er ist ein guter Typ, und ich habe ein Recht auf mein kleines Glück oder so.«

Sie schnaufte und wirkte ein wenig wie ein kleines gutmütiges Plüschtier. »Irgendwann ist es sowieso aus, weil ein Bulle aufkreuzt und nach seinen Papieren fragt. Ist ja auch normal, dass das so kommt. Dann ist es aus. Aber so lange will ich Milan und meine Ruhe, dass das klar ist …«

»Sicher doch«, sagte Grau hastig. »Ich habe wenig Erfahrung in diesen … in diesen Dingen. Ich halte ihn raus. Ab jetzt halte ich ihn raus.«

»Hah!«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Vielleicht wollen Sie das wirklich, aber Milan will es nicht mehr. Nur mit mir rummachen und hin und wieder Schnaps saufen und Frühstück richten für die blöden Gäste, das ist ihm nicht aufregend genug. Aber Sie sind aufregend für ihn. Also, was ist? Was machen Sie?«

»Ich habe ihn bereits entlassen«, versicherte Grau begütigend.

»Ich hoffe, dass er drauf hört.« Sie seufzte. »Aber er wird nicht hören. Er hat keine Papiere, er kann nicht mal beweisen, dass es ihn gibt. Na gut, ich will’s glauben. Mach mir keine Schande, Männeken.«

Dann machte sie kehrt und stampfte davon, als ginge es in einen Kampf.

»Ich brauche ein Telefonbuch«, sagte Grau hinter ihr her. »Und wenn es Sie beruhigt, kann ich auch ausziehen und mir woanders ein Bett suchen.«

»Kommt nicht infrage«, sagte sie, ohne sich umzuwenden. »Wenn Sie hier sind, habe ich euch wenigstens unter Kontrolle. Milan schläft noch.«

»Träumt er oft vom Krieg?«

Sie nickte. »Na sicher. Wie soll einer das verkraften, ohne verrückt zu werden?« Dann ließ sie ihn stehen.

Nach einer Weile brachte sie ihm die Berliner Telefonbücher, und er fand unter Sundern, Timo eine Nummer, die er sofort anrief.

Eine Frau sagte: »Ja, bitte?«

»Spreche ich mit Frau Sundern?«

»Exfrau, ja«, sagte sie.

»Ich möchte Ihren Exmann sprechen«, bat er. »Kann ich einen Termin haben?«

»Das wird nicht so schnell möglich sein.« Sie war sachlich. »Wir sind total überlastet.«

»Ich bin der, den Ihr Exmann heute Nacht verprügeln ließ. Sie erinnern sich?«

»Davon weiß ich nichts.« Sie blieb weiter sachlich. »Ich denke, er weiß von so etwas auch nichts. Es kann ja sein, dass die Angestellten mal überreagieren, nicht?«

»Das kann sein«, bestätigte Grau. »Geht es dem Frettchen besser? Mein Angestellter musste ihn etwas hart anfassen.«

Sie schwieg kurz. »Also, wann wollen Sie einen Termin?«

»Ich richte mich nach Ihnen.«

»Um was wird es gehen?«

»Um Berlin als neue Hauptstadt.«

»Herr Sundern ist kein Politiker«, sagte sie.

»Nein, aber angeblich bezahlt er ein paar von ihnen«, sagte Grau. »Sagen wir morgen Mittag?«, schlug er vor.

»Also um zwölf. Und Ihr Name?«

»Grau.«

»Grau?« Sie lachte leise und legte auf.

Sigrid Polaschke klopfte, kam herein und stellte ihm ein liebevoll angerichtetes Frühstück auf das Tischchen. »Es ist einfach so, dass ich Milan liebe«, sagte sie fast tonlos.

»Ich verstehe das schon«, antwortete Grau. »Ich halte ihn raus.«

»Das Einfachste ist, Sie beleidigen ihn«, sagte sie rasch und sah ihn unsicher an. »Ehrlich, das wirkt am besten, das weiß ich.«

»Ist gut, ich werde es versuchen«, versicherte Grau. »Wie … wie haben Sie denn vor Milan gelebt?«

»Eben so«, sagte sie. »Ich hatte nie viel Glück. Ach ja, eine vom Bordstein war ich auch mal. Immer Kerle, und weil ich gutmütig bin, habe ich sie alle ernährt, einen nach dem anderen. Milan ist anders.«

»Milan ist anders.« Grau nickte.

»Können wir uns vielleicht duzen? Ich meine, das ist einfacher.« Sie war unsicher, sie hatte nichts, um sich daran festzuhalten.

»Na sicher«, sagte Grau. »Es ist mir eine Ehre. Ich heiße Jobst.«

»Weiß ich doch längst«, polterte sie erleichtert. »Ich bin die Sigrid. Also, ich spare auf Papiere für Milan. Er darf das aber nicht wissen.«

»Was für Papiere?«

»Ich kenne da einen in Potsdam, der macht gute Papiere. Ziemlich echt. Er nimmt sechshundert Mark für einen kompletten Satz mit Pkw-Führerschein. Ich habe auch gehört, dass man polnische Papiere jederzeit kaufen kann, Führerscheine zum Beispiel. Kosten angeblich nur ein Viertel. Aber ich möchte was Solides.«

»Soll ich dir das Geld geben, äh vorstrecken?«

»Nein«, sagte sie scharf. »Ich will das richtig sparen, das macht mehr Spaß.«

»Taugen die wirklich was?«

»Na ja, ich denke, das reicht mal für einen flüchtigen Blick oder so. Milan ist aufgestanden, er wird gleich kommen.«

»Gut«, sagte Grau. »Ich werde ihm sagen, dass es nichts mehr ist mit dem Schatten.«

»Ja, ja«, murmelte sie vage und verschwand.

Grau hatte keine Zigaretten mehr. Er zog sich an und ging hinunter. Er suchte nach dem nächsten Kiosk und kaufte eine ganze Stange. Wahrscheinlich würde er in nächster Zeit keine Muße mehr für seine Pfeife haben. Als er zurückkam, saß Milan in einem der Sessel.

»Sigrid will, dass du aussteigst«, sagte Grau.

»Ich weiß. Willst du auch, dass ich aussteige?«

»Es ist zu riskant«, antwortete Grau entschieden. »Ist dir noch etwas eingefallen?«

»Ja. Ich habe das hier in deinem Gepäck gefunden.« Er legte den Colt auf den Tisch zwischen ihnen.

»Warum hast … wieso hast du das heimlich getan? Ich hätte es dir doch gesagt. Hast du auch das Geld gefunden?«

»Klar«, gab Milan gelassen zu.

Eine Weile war es sehr still. In der Ferne zog ein Rettungswagen vorbei und das Tatütata wirkte seltsam melodisch.

»Du hattest Angst?«, fragte Grau.

»Na sicher«, sagte Milan. »Ich habe gemerkt, dass deine Geschichte von wegen Berlin-Recherche nicht stimmt. Dann hast du mir was erzählt, und ich dachte: Was ist, wenn er jetzt wieder nicht die Wahrheit sagt? Ihr habt in Deutschland einen Spruch, du weißt schon: ›Wer einmal lügt …‹«

»Schon gut. Ich habe dir von Hector erzählt. Hector hat mir auch die Waffe und die Pillen gegeben. Es ist okay, du weißt alles. Noch etwas?«

»Noch etwas. Du hast erzählt, du hast White fotografiert und diesen Thelen.«

»Habe ich auch, wieso?«

»Hast du den Film schon entwickelt?«

Grau schüttelte den Kopf.

»Solltest du aber«, sagte Milan. »Gib mir den Film, wir haben einen Bekannten, der kann das schnell machen. Ich will sehen, wie White aussieht und Thelen.«

»Aber warum das, du bist nicht mehr mein Schatten.«

Grau konnte nicht umhin zu grinsen, weil auch Milan grinste.

»Sagen wir, halber Schatten?«, fragte Milan. »Einverstanden. Sonst sitzt du hier in der Wohnung und wirst verrückt. Sonst noch etwas?«

»Ja. Du hast gesagt, dass der verschwundene Mensch, dieser Ulrich Steeben, fünfzig Pfund reines Kokain bei sich hatte. Wenn es ein guter Stoff bleiben soll, macht er daraus rund zwei Zentner. Okay? Dann ist es immer noch besser als der Stoff, der sonst in der Stadt ist. Er soll so eine Art Kokain-König sein, okay? Das kann falsch sein, das kann ganz einfach falsch sein.«

»Aber wieso? Hier werden die Schönen und die Reichen zusammenkommen, hier wird regiert. Das scheint mir okay«, widersprach Grau.

»Hör mich an«, sagte Milan eindringlich. »Also zehn Millionen Dollar in bar, zwei Zentner Koks, gute Ware. Aber es geht doch hier um etwas anderes. Große Dealer spezialisieren sich ganz selten auf einen Stoff. Viel zu riskant, verstehst du, geschäftlich zu riskant.

Dann noch etwas: Hier in Berlin werden alle Diplomaten zusammenkommen, die jetzt in Bonn und Umgebung sitzen. Hunderte, ja Tausende von Diplomaten. Richtig? Ich sehe, du bist ein kluger Mann. Ich weiß aus Sarajevo, dass Diplomaten, besonders die aus Südamerika und Afrika, jede Menge Drogen im Gepäck haben – ohne jedes Risiko, verstehst du? Niemand durchsucht sie, niemand darf sie durchsuchen. Ist internationales Recht. Was ist, wenn … oh, Scheiße, ich weiß das nicht in Deutsch …«

»Du fragst dich, ob die Einschätzung dieses Steeben richtig ist, nicht wahr?«

»Genau. Ihr Deutschen habt Wiedervereinigung. Also fünf neue Bundesländer. Also siebzehn Millionen neue Kunden. Was ist, wenn das eigentliches Ziel ist: Markt in fünf neuen Bundesländern?«

»Was ist, wenn Steeben das auch begriffen hat? Vielleicht hat er sich mit jemand zusammengetan und Stoff und Geld verschwinden lassen …?«, überlegte Grau laut.

»Möglich«, meinte Milan. »Kann durchaus sein. Aber noch was. White und Thelen sagen dir: Lieber Grau, gehe nach Berlin und finde für uns Steeben! Und sie erzählen, sie können es nicht selbst tun, sie haben Schwierigkeiten. Sie behaupten das, aber es ist gelogen.«

»Wieso denn?«, fragte Grau. Er wurde zunehmend nervös, weil das, was Milan sagte, ihm selbst schon durch den Kopf gegangen war.

»Sie lügen. Wenn sie niemanden in Berlin haben, um Steeben zu suchen … Wenn sie das sagen, ist es Lüge. Sie haben immer – wie nennt man das in Deutsch? –, sie haben immer unsichtbare Männer. Sie können auch ein paar Kollegen von der CIA nehmen, oder? Niemand würde das wissen.«

»Das ist richtig.« Grau lächelte. »Als du mein Schatten warst, habe ich bereits gedacht: Mein Schatten treibt mich an. Jetzt treibst du mich wieder an. Natürlich, du hast recht, sie haben gelogen. Aber die Frage ist doch: Warum haben sie das getan?«

»Vielleicht, weil sie immer lügen. Vielleicht bist du eine zusätzliche … eine Sicherung. Vielleicht aber wollen sie, dass du etwas herausfindest, was du noch gar nicht weißt. Sie bezahlen dich, also muss es wichtig sein. Gib mir den Film, ich lasse ihn schnell entwickeln.«

Grau nahm die Kamera, spulte den Film zurück und gab ihn Milan. »Es gibt viel herauszufinden«, sagte er. »Aber du solltest deine Sigrid ernst nehmen, sie macht sich Sorgen.«

»Der beste Trick ist: Sigrid wird auch Teil der Arbeit«, sagte Milan. Er grinste wie ein Faun. »Das weiß ich genau, das habe ich ausprobiert. Sigrid ist nicht schlecht, wenn sie gefordert wird.«

»Mein zweiter Schatten?«, fragte Grau.

»Mir wird etwas einfallen.« Milan war zuversichtlich.

Dann sah er Grau an und tönte gefährlich weiter: »Weißt du, wahrscheinlich haben sie dich total beschissen. Was ist, wenn dieser Steeben niemals in Berlin war? Wenn er nicht hier war, sein Stoff nicht hier war, sein Geld nicht hier war? Was ist, wenn er schon seit Amsterdam verschwunden ist? Was ist, wenn er überhaupt nicht verschwunden ist, sondern sein Programm abspult wie geplant? Was ist, wenn sie dich total beschissen haben, wenn gar nichts von dieser Geschichte stimmt?«

»Aber es muss doch einen Grund geben, mich für so viel Geld nach Berlin zu schicken!«

»Was ist, wenn der einzige Grund ist, dass sie einfach irgendetwas unternehmen müssen, irgendetwas?«

»Du machst mich noch verrückt.« Grau sah ihn betroffen an.

»Das will ich nicht«, sagte Milan mit schmalen Lippen. »Ich habe nur gelernt, an nichts zu glauben.« Er holte tief Luft. »Ich will dich nicht beleidigen. Aber du bist naiv, oder?«

»Ich muss so sein, um schreiben zu können«, verteidigte sich Grau.

»Gut, mag sein, aber sie haben dich nach Berlin geschickt, um herauszufinden, wo die Musik spielt. Was ist, wenn die Musik in München spielt oder in Mailand oder in Frankfurt?«

»Dann streiche ich die Segel und sacke die Knete ein«, sagte Grau großspurig.

»Du doch nicht«, widersprach Milan mit einem Kopfschütteln. »Du willst doch wissen, weshalb sie dich bescheißen.«

»Das will ich schon«, gab Grau zu. Er fühlte sich elend.